Wenn die Thunerseespiele mit «Der Glöckner von Notre Dame» das Publikum verzaubern, steht einer im Schatten des Scheinwerferlichts: Martin Schläpfer. Der in Interlaken wohnhafte technische Leiter und Bauingenieur verantwortet den Auf- und Abbau der gesamten Seebühne – eine logistische Meisterleistung, die aus dem Thunersee eine temporäre Welt voller Musik, Licht und Emotionen entstehen lässt.
Anzeiger Interlaken: Noch bevor Quasimodo das mittelalterliche Paris auf der Seebühne zum Leben erweckt, sind Sie bei den Seespielen stark engagiert. Wie viel Lebenszeit beansprucht dieses Engagement? Martin Schläpfer: Die Thunerseespiele machen ungefähr 30 bis 40 Prozent meiner jährlichen Arbeitszeit aus. In der heissen Phase ist es deutlich mehr, da liegt der Fokus dann fast komplett auf dem Projekt. Ich bin offiziell Mandatsträger bei den Thunerseespielen und betreibe zusätzlich ein eigenes Planungsbüro für Veranstaltungen. Das geht Hand in Hand.
Und wie ist Ihre Verbindung zu den Seespielen – jenseits der technischen Verantwortung? Es ist etwas ganz Besonderes. Allein schon die Möglichkeit, direkt am See eine solche Anlage errichten zu dürfen, ist einzigartig. Teil dieses grossartigen Projekts zu sein, bedeutet mir viel.
Seit wann sind Sie Teil der Seespiele? Mein erstes Projekt war 2012 – mit einem Unterbruch ist dies nun meine achte Produktion.
Ist da schon Routine dabei? Zum Teil. Die Rahmenbedingungen bleiben ähnlich, und man sammelt natürlich Erfahrung. Aber jedes Jahr gibt es ein neues Stück, ein neues Bühnenbild – dadurch bleibt es spannend und immer wieder herausfordernd.
Was bedeutet das organisatorisch – gibt es Zahlen oder Grössenordnungen? Bei unseren Backstage-Führungen, die übrigens jedermann buchen kann, zeigen wir die Dimensionen jeweils auf: Es sind etwa 710 Tonnen Holz und Stahl, 41 Kilometer Rohre, zwölf Kilometer Kabel – der ganze Bühnenaufbau wird in Handarbeit montiert.
Was war die besondere Herausforderung dieses Jahr? Das war die Darstellung eines Turms der mächtigen Kathedrale Notre Dame auf der Bühne. Gemeinsam mit Bühnenbildner Stephan Prattes haben wir uns zum Ziel gesetzt, einen bespielbaren Kirchturm zu bauen mit all den technischen, statischen und sicherheitsrelevanten Anforderungen.
Wie lange dauert der Aufbau? Wir starten Anfang Mai. Dann haben wir vier Wochen Zeit, Bühne und Tribüne aufzubauen. Danach folgen zwei weitere Wochen für das Bühnenbild und diverse Feinarbeiten, sodass Ende Juni geprobt werden kann. Rund 30 Personen arbeiten gleichzeitig während der Hauptphase. Insgesamt sind bis zu 70 Personen über die Saison hinweg beteiligt. Externe Partner übernehmen Technik, Licht, Gastronomie. Die meisten sind seit Jahren involviert und kennen das Gelände und den Betrieb gut – das hilft enorm in der Koordination.
Gibt es bei der Planung Puffer für Änderungen oder läuft alles streng nach Plan? Der Aufbau ist streng getaktet. Alles ist minutiös geplant – muss auch so sein. Aber es gibt natürlich immer Überraschungen. Je besser die Vorbereitung, desto besser können wir reagieren.
Was ist die grösste Herausforderung? Das Wetter. Gewitter, Wind – das muss man ernst nehmen, gerade auf einer metallenen Anlage am See. Dafür gibt es Notfallpläne und Erdungssysteme – alles behördlich geprüft.
Sie sind Bauingenieur – wie viel von diesem Know-how braucht es für so ein Kulturprojekt? Sehr viel. Denn wir bauen nicht auf festem Boden, sondern auf und im Wasser. Jedes Element – von der Bühne bis zum Turm – muss stabil, sicher und wetterfest sein. Es geht um Statik, Materialkenntnisse, Planung.
Was bleibt Ihnen nach der Premiere? Ein stiller Stolz. Ich wirke im Hintergrund – aber von dort sehe ich, ob alles funktioniert. Wenn die Musik spielt, das Licht sitzt und das Publikum begeistert ist, weiss ich: Wir haben es geschafft.
Und wie geht es weiter, wenn das Stück einmal läuft? Während dem Spielbetrieb kümmern wir uns um den Unterhalt. Wir kontrollieren täglich, reparieren, ersetzen. Parallel planen wir schon den Rückbau, der direkt nach der Dernière beginnt. Mitte September ist wieder alles verschwunden.
Ist das ein wehmütiger Moment? Im Gegenteil. Ich mag diesen Kreislauf. Etwas Gigantisches entsteht – steht für einige Wochen – und verschwindet wieder. Man lebt im Moment. Es bleibt die Erinnerung, das ist der Reiz von temporärem Bauen – und die Vorfreude auf das nächste Bühnenwunder.
www.thunerseespiele.ch
Ein 450-Tonnen-Koloss
Zahlenspielerei - Die Seebühne in Thun ist nicht nur ein visuelles Highlight, sondern auch ein technisches Meisterwerk. Sie misst 32 Meter in der Breite und steht auf 912 Quadratmetern im Thunersee gleich neben dem Strandbad. Mit dem Aufbau von Bühne und Tribüne sind rund 20 bis 30 Personen während fünf Wochen beschäftigt, das Bühnenbild entsteht in weiteren fünf Wochen durch ein sechsköpfiges Team. Insgesamt werden 6000 Arbeitsstunden geleistet, der Abbau dauert nochmals drei bis vier Wochen. Die Premiumtribüne bietet 2500 Sitzplätze mit angenehmer Beinfreiheit. Sie besteht aus 30’000 Einzelteilen, vorwiegend Holz-Stahl-Elementen, 4370 Quadratmeter Holzplatten und 41 Kilometer Rohre. Der Bühnenbelag wurde mit einer 2-Komponenten-Flüssigabdichtung wie bei Flachdächern erstellt: 2500 Kilogramm Material wurden mit 100 Farbrollern und 100 Pinseln verteilt. Das Gesamtgewicht inklusive Publikum liegt bei 450 Tonnen. Gesichert wird die Konstruktion mit Keilen, ganz ohne Schrauben oder Muttern – gestützt auf Kies, welches anlässlich der Kaba-Ausstellung 1949 aufgeschüttet wurde. Der gesamte Aufbau ist blitzgeschützt. Die Thunerseespiele dauern noch bis am 23. August, gezeigt wird der Glöckner von Notre Dame.
17. Juli 2025